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I LOVE DEUTSCHE SPIESSIGKEIT 

Sonntags bringt man keine Flaschen weg, Besuche und Anrufe zwischen 12:00 und 15:00 - auch bekannt als Mittagsruhe - gehören sich nicht und Lärm in dieser Zeit sowie nach 20:00 genauso wenig. Versprechen hält man, Geliehenes gibt man unter allen Umständen zurück, bevor der Verleiher danach fragen muss und Pünktlichkeit ist eine Sache des Respekts. Gott, wie ich diese Sprüche meiner Eltern als Teenager gehasst habe. Sie waren für mich der Inbegriff der Spießigkeit. Und heute, mit 43, in den USA, weit entfernt von der Heimat, sehne ich mich so sehr danach zurück. 

Wenn die Nachbarn genau dann wieder mit der Kreissäge anfangen, wenn ich Matilda um 13:00 Uhr gerade zum Schlafen überreden konnte, denke ich sehnsüchtig an die heilige Mittagsruhe zurück. Wenn die Nachbarn auf der anderen Seite Sonntag nachmittag in voller Lautstärke ihre Gospelchöre hören, auch. Und wenn mir eine Tür vor dem Kinderwagen zugeschlagen wird, erinnere ich mich daran, wie meine eigene Mutter mir eingetrichtert hat, immer hinter sich zu schauen, wenn man durch eine Tür geht. So vieles, was sich eben „gehört“, was man macht oder eben gerade nicht macht. So viele ungeschriebene Gesetze, die mir als Teenager vorkamen, wie ein viel zu enges Korsett. 

Heute erkenne ich, dass die verhasste Spiessigkeit nichts anderes ist als ein Geflecht von Regeln. Wertvolle, manchmal unausgesprochene Regeln, die das Miteinander organisieren. Sicherlich, wir Deutsche neigen dazu, eher zu viele als zu wenige Regeln zu haben. Aber hey, unser Miteinander funktioniert doch auch ziemlich gut! Das, was ich als Kind als spiessig empfunden habe, betrachte ich heute als Tugenden. Gute deutsche Tugenden. Pünktlichkeit zum Beispiel. Als Teenager und weit in meine 20er hinein war ich chronisch unpünktlich. Und fand das irgendwie cool. Pünktlich waren ja nur die Spiesser. Dann ist da noch die deutsche Gründlichkeit. Penible Spiesser dachte ich früher, wenn Lehrer und Vorgesetzte mir einen Mangel an selbiger vorwarfen. 

Bei meinem ersten Hautarzt in den USA wünschte ich mir die deutsche Gründlichkeit. Die Hautärztin warf einen zweisekündigen Blick auf das Muttermal, das mir Sorgen bereitete und begann auf meine Bitte hin, einen jeweils ebenso langen Blick auf die vielen anderen Muttermale zu werfen - allerdings nur dort, wo meine Klamotten endeten und Haut sichtbar war. Ein Glück hatte es gestern 30 Grad, die Shorts waren kurz, das T-Shirt konnte mal eben angehoben werden. Nach fünf Minuten waren wir durch. Mein letzter Check in Deutschland hatte locker 20 Minuten gedauert, ich musste mich nackig ausziehen. Die Hautärztin guckte sich jede Zehe, die Fußsohlen, die Kopfhaut an. Sie warf sogar einen Blick in die Pofalte. Deutsche Gründlichkeit eben.

WENN DAS VERBRECHEN IMMER NÄHER RÜCKT

Heute lebe ich seit zwei Wochen und drei Tagen in Bedford Stuyvesant in Brooklyn. In dieser Zeit gab es zwei Schießerei in unserem Viertel. Letzte Woche wurde einem Polizisten ins Bein geschossen in einer Straße, die ich schon oft im Bus entlang gefahren war. Die Schießerei heute fand vor der altehrwürdigen Bücherei statt, in die ich jeden Tag mit Matilda zu einer Babystunde gehe - exakt 7 Laufminuten von unserem Haus entfernt. Erst heute morgen besuchten wir unsere Lieblingsstunde bei Miss Emilia - ‚Babies & Books‘. Als ich am Nachmittag mit der Kleinen in der Trage vor meiner Brust baumelnd unseren obligatorischen Spaziergang machen wollte, war der gesamte Nachbarblock von der Polizei gesperrt. Das aus Filmen so wohl bekannte Band flatterte im strahlenden Sonnenlicht. Verbrechen geschehen also auch bei helllichtem Tag.

Dass Matilda vor meiner Brust baumelt, ist mir plötzlich überhaupt nicht recht. Wie soll ich sie beschützen, wenn sie wie ein Panzer meinen eigenen Körper bedeckt? In meinem alten Leben ohne Baby hätte ich mich möglicherweise der Faszination des Bösen nicht erwehren können, hätte mich möglicherweise sogar näher an den Ort des Geschehens herangepirscht. Jetzt geht es nur um die Sicherheit der Kleinen. Ich laufe schnurstracks zurück, beäuge die entgegenkommenden Menschen, die plötzlich alle potenzielle Täter sind. Sofort flammt in mir der Gedanke auf, dass wir hier wieder wegziehen müssen, auch wenn wir noch gar nicht richtig eingezogen sind. Mein Mann erzählt mir am Abend, dass in Manhattan mehr Gewaltverbrechen geschehen als in Brooklyn. Ein kleiner perverser Trost. Am nächsten Tag stehen vor der Bücherei unzählige Kerzen. RIP, ein Luftballon am Gitter dahinter. Der 16-Jährige, der von einem 17-Jährigen erschossen wurde, ist im Krankenhaus seinen Kopfverletzungen erlegen. 

Ich könnte heulen, fühle mit der Mutter, dem Vater, der Schwester, der Tante, der Oma, dem Opa… Und gleichzeitig möchte ich es gar nicht an mich ranlassen, möchte eigentlich gar nicht wissen, dass es ein 16-Jähriger war, der sein Leben liess. Möchte mich nicht mit der Frage beschäftigen, ob die Gegend sicher genug ist für Matilda. Und dann erinnere ich mich an das Attentat in London, auf der London Bridge. Wir waren an diesem Abend keine 30 Meter Luftlinie von der Messerstecherei entfernt auf dem Nachhauseweg vom Italiener. Im 7. Monat schwanger spürte ich in dieser Nacht zum ersten Mal, wie stark der Mutterinstinkt ist. In den 1,5 Jahren, die ich in London gelebt habe, gab es vier Attentate. Geblieben ist davon die Erkenntnis, dass überall eine Bombe hochgehen kann, dass es immer irgendwo einen Verrückten geben kann, der mit dem Messer auf Passanten einsticht. 

Oder wie man früher sagte: Man kann morgen auch vom Bus überfahren werden. Letztlich hilft nur der Glaube daran, dass schon irgendwie alles gut werden wird.